Die letzten Minuten vor dem Aufbruch ...


Aufstieg im Stau ...


Sonnenaufgang am Kilimanjaro


Rast in dunkler und eiskalter Nacht


Gilmans Point 5681 m


Gilmans Point im Gegenlicht


Schon sooo müde und der Gipfel kommt einfach nicht näher ...


Noch dieses Büßerschneefeld ... Uhuru Peak ist in Sicht!


Geschafft! Gruppe und Guides vollzählig am Gipfel


Ines und Roland
auf dem Rückweg ...


Die "Southern Icefields", dahinter Mount Meru


800 Höhenmeter staubige "Abfahrt"


Reger Verkehr auf der "Coca-Cola-Route" kurz hinter der "Kibo Hut"



Auf dem höchsten Punkt Afrikas   -                                       Der Tag des Triumphes

Um genau sieben Minuten nach elf weckt uns Roland - nicht Condrad. Der hat wohl wieder Probleme mit seiner Uhr. Jedenfalls sind wir schon heftigst beim Packen der Trekkingsäcke, als Condrad verspätet herein schaut. In Sachen Notdurft draußen, registriere ich mit Befriedigung die völlige Windstille unter einem sternenklaren Himmel. Im schwachen Schimmer der Gestirne ist tief unten eine geschlossene Wolkendecke auszumachen. Ideale Voraussetzungen, um den Gipfel zu erreichen - so scheint es jedenfalls. Bis halb zwölf ist alles zusammen gepackt und der Tisch für ein kurzes Frühstück gedeckt. Zum Glück gibt es lediglich ein paar Kekse. Mir liegt das schwere Abendessen noch im Magen. Etwas anderes könnte ich jetzt kaum runterkriegen. Aber Kaffee geht und der macht mich dann richtig angriffslustig. Innerlich scharre ich ein wenig mit den Hufen, wie ein junges Pferd. Anzugsdiskussionen machen die Runde, und ich rate, sich nicht zu warm anzuziehen. Kein Lüftchen regt sich draußen, und die im Aufstieg produzierte Körperwärme wird die Minusgrade schon kompensieren. Ich verzichte auf die dicken Überhandschuhe und verstaue auch die Fleecejacke im Rucksack. Damit habe ich nur mein langes Unterhemd, ein langes Shirt und darüber die winddichte Haut der dünnen Jacke an. Jeder erhält ein kleines „Kraftpaket“ mit zwei gezuckerten Saftgetränken und diversen Süßigkeiten. Die Flaschen sind mit heißem Wasser oder Tee gut gefüllt. Stirnlampe aufsetzen. 0:20 Uhr: Wir brauchten das übliche akademische Viertel Verzögerung plus „Pole-pole-Zuschlag“, jetzt ist es soweit. Condrad führt die Formation natürlich an, ihm folgt Ines. Meine Frau war schon an den Vortagen als „Pacemaker“ wegen ihres gleichmäßig moderaten Schrittes beliebt. Bergerfahrung lässt sie auch dann betont langsam gehen, wenn die Form mehr zuließe. Hinter Ines gehe ich, mir folgen Inge, dann Roland und Matthias. William und Alex tragen die „rote Laterne“.

Schneckengleich steigen wir im bröseligen, schon bekannten Hang aufwärts. Aber es ist nur meine Ungeduld, die mir das Tempo so langsam vorkommen lässt. Bereits um 1:10 Uhr ist die gestrige Akklimatisationshöhe erreicht. Meine Stirnlampe bleibt meist ausgeschaltet. Die alte, mit herkömmlichen Glühbirnen bestückte „Funzel“ würde die Batterien zu schnell verbrauchen. Und einen Batteriewechsel will ich nur im Notfall riskieren. Ines’ und der anderen moderne LED-Strahler entwickeln eine solche Helligkeit, dass ich meine Lampe nur bei kritischen Passagen einschalte. So habe ich es auch letztes Jahr auf dem Gletschereis des Huayna Potosí in Bolivien gehalten. Und für dieses Mal steht mein Entschluss fest: Meine antiquierte Stirnlampe wird den afrikanischen Boden nicht mehr verlassen!

Seit geraumer Zeit gewinnen wir nur noch wenig Höhe. Wir queren am Hang in Richtung Hauptroute. Sie führt von der „Kibo Hut“ direkt aufwärts und erreicht den Kraterrand beim berühmten „Gilmans Point“. 1:45 Uhr: Roland verkündet die 5000 Meter Höhenmarke. 230 Meter geschafft aber immer noch 900 bis zum Gipfel … Immer wieder irrlichtern aufwärts voraus die Stirnlampen einer anderen Gruppe. Das kann nur der einige Minuten vor uns gestartete Ami mit Familie sein. Der Abstand zu ihnen verringert sich stetig, und schließlich überholen wir sie. Die drei gesunden Familienmitglieder sind mit ihren Guides unterwegs und einer hat Probleme. Dunkelheit und unsichere Situation scheinen das „Schnarren“ seiner Stimme gedämpft zu haben. Jedenfalls stört sie mich in diesem Moment überhaupt nicht. Weiter geht’s in Richtung Hauptweg. Irgendwann verliere ich dann kurz das Gleichgewicht, weil ich einen Tritt falsch taxiere und falle ziemlich unkontrolliert nach hinten. Mit der behandschuhten Hand kann ich mich gerade noch an einem Felsblock abfangen, um nicht auf dem Rücken zu landen. Weiter, immer weiter …

Jemand stellt halblaut die Frage, ob die Hauptroute schon erreicht ist. Die Antwort gibt’s wenig später, als wir die Marangu-Route tatsächlich erreichen und das auf wenig erfreuliche Weise: Unterhalb und oberhalb kriechen etliche „Lichterketten“ den Hang hinauf. Die relative Bergeinsamkeit der letzten Tage ist abrupt zu Ende, wir sind auf der berühmt berüchtigten „Coca-Cola-Route“. Ich nehm’s zunächst mit Gleichmut, auf Gletschern beliebter Berge und dem des Potosí im letzten Jahr war’s nicht anders. Wir schieben uns an einer rastenden Gruppe vorbei, und dann wird meine Aufmerksamkeit zunächst einmal von einem mächtigen „Feind“ beansprucht. Seit wir in den Hang der Hauptroute einstiegen, fährt mir schneidender, eiskalter Fallwind in alle Ritzen der Bekleidung. Rasch sind alle Öffnungen des Anzuges abgedichtet, die Kapuze der Jacke übergezogen und mit Gummizügen an den Kopf angepasst. So geht es erst einmal. Ich hoffe der Wind stellt nur eine kurzfristige Kapriole des Kili- Klimas dar, schließlich war der Quergang ja fast frei von Windstößen. Der Weg ist anstrengend. Nicht nur wegen der Steigung. Jeder Schritt landet im Schutt des Hanges und meistens rutsche ich ein kleines Stück zurück. Auch hierfür bemühe ich das Prinzip Hoffnung und wünsche mir feste, felsige Passagen. Keine der Hoffnungen erfüllt sich. Kehre um Kehre legen wir im grundlosen Schutt zurück, und der Wind bläst unablässig. Ich kühle an Händen, Füßen und am Oberkörper immer weiter aus.

Kann es schlimmer kommen? Es kann und es kommt schlimmer. Immer wieder zwingen uns langsamere oder rastende oder mit anderen Schwierigkeiten kämpfende Gruppen zum Halten. Nach etlichen Serpentinen sind mehrere Lichterketten aufeinander aufgelaufen oder haben sich „ineinander geschoben“. Ergebnis: Zwei Schritte steigen - stehen - zwei Schritte steigen - stehen - jetzt wieder drei Schritte oder auch nur einen - stehen … zwischendurch geht auch mal gar nichts mehr, weil sich irgendwer schwer atmend mitten auf den Weg stellt. Dieser „Stau“ gestaltet den Aufstieg noch anstrengender, weil kein Gehrhythmus mehr zustande kommt. Ich merke wie sich mit der Zeit Aggressionen in mir aufstauen bis ich einen Wutausbruch gerade noch unterdrücken kann …

Es gibt einen wichtigen Unterschied zu meinen bisherigen Erfahrungen an überlaufenen Bergen. Die wiesen allesamt Gletscherzugänge auf, deren Begehung nur von ganz wenigen Mutigen (eigentlich wäre ein anderes Wort angebracht!) ohne entsprechende Erfahrung unternommen wird. Außerdem sind auf Gletschern Überholmanöver schnellerer Seilschaften meist problemlos möglich. Der Kili hat eisfreie Zugänge und wie das Erlebnis beweist, wagen viele Unbedarfte ohne Bergerfahrung und mit wenig Kondition einen Aufstieg. Ja, und dann stehen sie kraft- und ratlos in der Spur und blockieren das Weiterkommen. Mehrfach geht mir eine Schweizer Gruppe massiv auf den Wecker. Und als eine junge und - pardon - reichlich doofe Touristin demonstrativ seufzend wieder einmal für alle den Weiterweg versperrt, statt zur Seite zu treten, wäre ich um ein Haar ausfallend geworden. Gerne hätte ich ihr ins Gesicht geschleudert, was ich auf der Zunge trug aber glücklicherweise verschwieg. Ich hätte sie aufgefordert nach Hause zu fahren, noch ein paar Monate zu üben und dann wieder zu kommen. Im übrigen solle sie endlich für jene den Weg frei machen, die sich auf diese Unternehmung gewissenhaft vorbereitet haben … Aber ich halte die „Klappe“, weil’s sowieso nichts bringt und die unvernünftige Frau mich ohnehin nicht verstehen würde.

Ich muss etwas unternehmen, sonst falle ich bei diesem „Gezuckel“ in Kältestarre. Mich friert’s erbärmlich und den nächsten Halt nutze ich, um mit Ines’Assistenz in Windeseile Fleecejacke und Überhandschuhe anzuziehen. Dazu müssen Fleece-Handschuhe und Anorak erstmal runter, was bei diesen Minusgraden kritisch ist. Als ich endlich alles am Leib trage, haben sich meine Finger „abgemeldet“. In den nächsten Minuten mühe ich mich, sie durch rhythmisches und kräftiges Ballen der Fäuste wiederzubeleben. Nicht nur das gelingt, endlich spüre ich auch am Oberkörper keine Kälte mehr. Das Manöver war dringend notwendig und erfolgreich.

Die Situation wird immer unübersichtlicher. Bisweilen verliere ich völlig den Überblick, wo die anderen Mitglieder meiner Gruppe steigen. Zwischen uns bewegen sich immer wieder auch andere Touristen. Condrad müht sich seine Truppe zusammen zu halten, was ihm nicht immer gelingt. Das liegt aber nicht nur an den fremden Touristen, sondern wohl auch an Matthias, dem in diesem schier endlosen Hang auch die Kraft auszugehen droht. Wie ich später erst realisiere, hat Alex seinen Rucksack übernommen. Nervig dieses Durcheinander. Wo ist Ines? Sie geht nicht mehr vor mir und ich werde keinesfalls akzeptieren, dass irgend etwas oder irgend jemand meine Frau und mich trennt. Ich arbeite mich an ein, zwei Fremden vorbei und wenig später hab ich sie dann wieder vor mir. Ich könnte aus der Haut fahren bei diesem blöden Aufstieg. Nur beiläufig, von Zeit zu Zeit, registriere ich, dass mir Höhe und Tempo noch keine Probleme machen. Ines scheint es nicht anders zu ergehen. 5400 oder 5500 Meter müssen wir inzwischen hoch sein - oder etwa doch noch tiefer? In Dunkelheit und Durcheinander habe ich jedes Gefühl für Parameter wie Zeit, Höhe und Entfernung verloren. Und noch immer kein Schimmer vom nahenden Sonnenaufgang. In meiner Erinnerung findet sich dieser Wegabschnitt zugleich endlos und auf nur wenige Wahrnehmungen geschrumpft wieder. Ein Wirbel von unscharfen, düsteren Schwarz-Weiß-Bildern. Konkret sind nur Kälte, fehlende feste Tritte, immer wieder einmal ein bekanntes Gesicht im Streulicht der Lampen, ständige Behinderungen und Ines’ Konturen vor mir. Mehr als vier Stunden quälen wir uns auf diese Weise aufwärts. Das hat nichts Schönes, nichts Erhabenes, nichts Abenteuerliches und auch nichts ansatzweise Lustiges. Es ist hart, ärgerlich, anstrengend und abstoßende Realität eines mit Tourismus überladenen Modeberges.

Endlich ein Schimmer Richtung Osten! Kaum Licht, gerade so viel, dass Mawenzi und die tiefer liegende Wolkendecke etwas Kontur gewinnen. Und in diesen Breiten ist der Übergang von der Nacht zum Tag recht kurz. Weiter stumpfsinnig steigen, Schritt um Schritt. Langsam gewinnt der Schimmer etwas Farbe, ein gelblicher Strich auf dem Horizont. Für erste Aufnahmen reicht das Licht noch nicht. Also weiter. Ich schaue wieder und wieder nach oben. Mir ist, als wäre das Ende des Hanges sichtbar, fünfzig, achtzig Meter über uns. Also weiter. Es wird heller. Der Sonnenaufgang kündigt sich an. Noch eine Kehre und dann noch eine. Der Weg wird fester. Am östlichen Horizont ist jetzt genug Helligkeit und Farbe, rot, gelb, hellblau, dunkelblau. An der nächsten Kehre schere ich aus, krame die Kamera aus dem Rucksack und hoffe inständig, dass die Kälte den Batterien noch genug „Saft“ gelassen hat. Die Anzeige ist ok und so stütze ich mich auf einem Felsblock ab und schieße meine ersten Fotos. Condrad hat die Gruppe halten lassen. Es wird keinen spektakulären Sonnenaufgang geben, das verhindert die Bewölkung da unten. Aber dieses wahnsinnige Farbenspiel ist beeindruckend genug. Und während dieser Momente fällt alle Mühsal, jeglicher Verdruss der letzten Stunden von mir ab. Das Wunder eines Sonnenaufgangs in dieser Höhe ist von berückender Schönheit und mit Worten nicht zu beschreiben …

Wir raffen uns auf und stapfen weiter. Zwei Wahrnehmungen überfallen mich ohne Vorwarnung: Der Kraterrand liegt nur noch ein paar Meter über uns! Und: Das Gehen fällt mir jetzt deutlich schwerer als vor der Rast. Aber es bleibt keine Zeit darüber nachzudenken. Zwei, drei Schritte noch um einen Felsen und dann stehe ich mit Ines am berühmten Gilman’s Point, am Kraterrand des Kibo, in 5681 Meter Höhe. Hier ist die Hölle los! Ausgelassenheit paart sich mit rücksichtsloser Fotogier. Jeder will sein Beweisfoto vor den Schriftbrettern: „You are now at Gilman’s Point, 5681m.“ Darunter ein zweites Brett: „Tanzania. Welcome and Congratulations.“ Gut, nun können wir auch die obligatorischen Bilder machen. Denkste! Da gibt es absolut unmögliche Leute ohne jeden Blick für andere. Statt zur Seite zu treten, ein paar Schritte weiter, stehen sie lachend, schwatzend und latschen auch immer wieder in die Szenerie. In Rom vor der Fontana di Trevi war’s genauso, nur viel weniger anstrengend und erheblich wärmer.

Die Bilder sind im Kasten, und Gilmans Point liegt im Halbdunkel des Pfades hinter mir. Jetzt geht es an der Innenseite des Kraterrandes längs in Richtung „Uhuru Peak“, dem höchsten Punkt des Kilimanjaro. In Zahlen trennen uns noch über 200 Höhenmeter, bald zwei Kilometer Wegstrecke und letzten Endes dann anderthalb Stunden vom Ziel aller Träume. Ich bin müde, unheimlich müde. Jeder Meter Weg ist anstrengend und der Puls schießt über. Ich kann meinen Puls vom Lauftraining her gut einschätzen. Mein Herz gibt jetzt mehr als 90% seiner Maximalleistung. Auch bei Ines beobachte ich Zeichen der Erschöpfung. Manchmal stützt sie sich schwer atmend über ihre Stöcke. Der Weg weist gottlob keine relevanten Steigungen mehr auf. Immer wieder werden atemberaubende Ansichten über und in den Krater, zum dicken Eis der verschiedenen Gletscher und in die wolkenverhangene Tiefe geboten. Ich weiche auch vom Weg ab, um zu fotografieren. Das gefällt Condrad nicht, er will jetzt zügig zum Gipfel und erklärt mir, dass ich ja auf dem Rückweg alles fotografieren kann. Aber was weiß der schon von Fotografie. Dieses frühe, flach einfallende Licht macht unvergleichliche Farben. Die hab’ ich später nicht mehr … Ist mir auch egal, was er sagt, ich muss ohnehin immer wieder stehen bleiben, um den Herzschlag zu beruhigen. Und das mach ich eben da, wo es für Aufnahmen am günstigsten ist … Die Kamera habe ich im Bereich der Batterien mit der Hand umfasst und schütze sie so zwischen den Aufnahmen vor Auskühlung. Die Batterieanzeige fällt bei Aufnahmen kurzfristig auf „halb-“ oder gar „viertelvoll“. Die Kälte reduziert die Stromabgabe gewaltig und erst in meiner warmen behandschuhten Hand erreicht die Anzeige wieder Vollausschlag.

„Uhuru Peak“ kommt einfach nicht näher. Eben war kurzeitig ein steileres Stück zu überwinden. So schwach fühlte ich mich nicht einmal in der Endphase eines Marathonlaufes … Dünne Altschneefelder säumen den Weg. Ihre Oberfläche zeigt Büßereisformationen. Wirklich intensiver Schneefall liegt also schon lange zurück. Immer näher kommen wir dem Rand des Gletschers, den „Southern Icefields“ und zum Glück auch „Uhuru Peak“. Noch etwa 300 Meter … Ich bin „rappelfertig“. Ein Büßerschneefeld ist noch zu durchqueren. Eine knie- bis hüfthohe Rinne führt hindurch, so dass nicht mal hier Schnee zu betreten ist. Noch fünfzig Meter, das gibt’s nicht, gleich geschafft … Da gehen wir plötzlich und ganz selbstverständlich nebeneinander, Ines und ich, und unsere Hände finden sich blind. Auf den letzten Metern zum Gipfel, Hand in Hand - äußerer Ausdruck innerer Übereinstimmung. Ich nehme sie in die Arme und küsse sie. „Bergheil“, mehr kann ich nicht sagen. Die Stimme versagt wegen Schwäche und Rührung. Das ist nicht der höchste Berg meines Lebens aber der Wichtigste, denn so hoch waren wir gemeinsam noch nie!

8:30 Uhr, etwa acht Stunden sind seit dem Aufbruch vergangen. Ein Wahnsinnsauftrieb am Gipfel! Etliche Touristen und Guides wimmeln durcheinander. Ines umarmt Condrad, nach und nach treffen alle ein, Roland, Inge, Matthias, William, Alex. Der Triumph der Gruppe ist komplett. Alle haben den Gipfel erreicht. Umarmungen, Händeschütteln, Gratulationen, Schulterklopfen und natürlich … Fotos! In alle Richtungen und selbstredend vor den aufgestellten Erinnerungsbrettern: „Congratulations! You are know at Uhuru Peak, Tansania, 5895m. Africa’s highest point, World’s highest free standing mountain, one of world’s largest volcanoes. Welcome.”

Ich habe unsäglichen Durst, nur wenig und seit Stunden nichts mehr getrunken. Das Wasser aus den Flaschen ist zu kalt und ungenießbar. Ich setze mich auf einen Stein und schlürfe gierig den süßen Saft aus dem mitgegebenen Päckchen. Selbst das ist anstrengend. Wenn ich nicht aus Erfahrung wüsste, dass der Rückweg abwärts wesentlich leichter fällt, ich müsste mich sorgen. So sitze ich einfach nur da und warte auf die Rückkehr der Kraft. Und ich schaue. Unbemerkt leert sich der Gipfel. Als ich dann aufstehe ist außer Ines, Roland, Condrad und mir niemand mehr hier!!! Noch vor ein paar Minuten Gedränge wie beim Popkonzert, und nun gehört uns Uhruru Peak“ alleine! Condrad hat alle Zeit der Welt. Eile ist nicht nötig. Das Wetter ist gut, der Rückweg völlig ungefährlich und wir liegen gut in der Zeit. Langsam und mit ständigen Unterbrechungen für Fotos treten wir den Rückweg an. Verlassen liegt „Uhuru Peak“ hinter uns. Heute wird niemand mehr herkommen.

Es war auch Rolands Sternstunde. Einer seiner Herzenswünsche ist in Erfüllung gegangen, und vorhin gingen die „Gefühlspferde“ mit ihm durch. Begeisterung und Rührung versuchen sich in seinem Gesicht gegenseitig zu verdrängen. Intensiv tauscht er sich mit Ines aus, die vorhin verdächtig oft ihr Taschentuch brauchte. Die beiden gehen einen Großteil der Kraterrunde gemeinsam. Jetzt ist auch Muße das in Grün und Blau schimmernde Eis der Gletscher zu bewundern. Wie dick mag es sein? Schwer zu schätzen ohne Bezugspunkt. Am Rand vielleicht 50, 60 Meter. In ein paar Dekaden wird es verschwunden sein. Der Abschmelzprozess verläuft immer rasanter. Zu Zeiten der Erstbesteigung bedeckte den Kilimanjaro bis auf 5000 Meter herunter eine geschlossene Eiskappe. Davon sind nur noch Reste erhalten. Vom Amboseli Nationalpark aus werden wir später sogar den Unterschied zu unserem ersten Besuch vor 13 Jahren sehen. Vergleiche von heutigen und Fotos von damals demonstrieren den deutlichen Gletscherrückgang.

Wieder zurück an Gilmans Point. Auch hier ist niemand mehr. Alle anderen Gruppen sind bereits abgestiegen. Eine letzte Rast und dann geht’s abwärts über die Flanke nächtlicher Qualen. Was für ein elender Schutthang!!! Loses grob- bis feinkörniges Material überall. 800 Höhenmeter (!) extrem staubige „Abfahrt“ folgen jetzt. Was heute Nacht alle Kraft genommen, hilft sie jetzt sparen. In weniger als einer Stunde sind Ines und ich unten - begleitet von Alex. In Höhe der Hans-Meyer-Höhle entdecke ich die Einmündung des Weges, den wir von der „School Hut“ her nahmen. Die Hans-Meyer-Höhle ist nicht mehr als eine Vertiefung im Fels, wenig beeindruckend und benannt nach dem deutschen Erstersteiger (6.10.1889) des Kilimanjaro. Natürlich kostet auch die „Schuttabfahrt“ Kraft, also legen wir gegen Ende noch eine kleine Rast ein, sitzen auf einem Fels, trinken letzten Tee aus der Thermosflasche, essen einen Schokoriegel. Alex wartet mit Distanz. Dann sehen wir William von oben herannahen. Er erzählt, dass jemand von uns Schwierigkeiten hat und er Träger zur Unterstützung von der „Kibo Hut“ holen soll. Alex steigt daraufhin wieder auf. Ich würde gerne helfen, schaffe jedoch wegen „not enough power“ garantiert keinen Wiederanstieg. Das sage ich Alex und auch, dass er uns allein lassen soll. Man kann den Weg jetzt unmöglich verfehlen, die „Kibo Hut“ ist seit dem Abstieg in Sicht.

Was mag da oben los sein? Mit sehr gemischten Gefühlen beginnen wir die letzte Etappe. Kurz vor der Hütte kommt uns der Chef der Träger, „Genes Arobogasi“, entgegen. Unserer ansichtig hellt sich sein schwarzes Gesicht zu einem Lächeln auf. Er hat sich schon an den Vortagen einigermaßen rührend um uns beide gekümmert und geleitet uns jetzt auf den letzten Metern zur Hütte. Er zeigt uns einen Tisch mit Sitzgelegenheit hinter der Hütte. Sitzen! 12 Uhr, High Noon. Genes bringt nach Minuten einen Begrüßungstrunk. Irgendein gelbes, zuckersüßes Gebräu aus der Chemiefabrik. Egal runter damit, schmecken tut’s ja. Von unserer erhöhten Terrasse aus lässt sich das Camp rings um die Kibo Hut gut überblicken. Ständig treffen neue Träger ein und beginnen nach kurzer Zeit mit dem Aufbau von Zelten. Das ist hier die Hauptroute, die Marangu- oder „Coca-Cola-Route“. So genannt, weil es das Getränk an jeder Hütte hier zu kaufen gibt.

Als nächster, nach 20 Minuten, trudelt Roland ein. Genaues weiß er auch nicht, nur dass Matthias und wohl auch Inge Probleme im Abstieg hatten. Die können so schlimm dann auch wieder nicht gewesen sein, denn erst Inge, danach Matthias, treffen mit weiterer Verzögerung aber wohlbehalten ein. Und Matthias - ein gutes Zeichen - ist schon wieder überaus kommunikativ, indem er von seiner gerade gehabten Bergerfahrung berichtet. Dafür nimmt ihn Roland dann ein wenig auf die Hörner, allzu augenfällig waren seine Konditionsprobleme.

Wir essen im Zelt, und ich denke mal, allen geht es wie mir: Ich bin müde. Ohne es mir anmerken zu lassen überdenke ich eines jeden Leistung, einschließlich meiner eigenen. Und es bleibt mir nur ein Schluss: Am stärksten und wenigsten anfällig für die Höhe zeigte sich Ines. Es kam so, wie ich es erhofft und nach den Erfahrungen früherer Trekkings auch ein bisschen erwartet hatte. Sie passt sich schnell der Höhe an und hat dann wegen ihres Ausdauertrainings keine Probleme. Meine Ausdauer in tieferen Gefilden ist zwar weitaus größer, dafür braucht mein Körper erheblich mehr Zeit, um sich in der dünnen Luft zurechtzufinden. Die häufigen Kopfschmerzen zeigen das. Auch heute Nacht, vor dem Start und oben am Gipfel, habe ich mich mit Pillen vom Kopfweh befreit.

Die Aussicht, heute weitere 1000 Höhenmeter absteigen und dafür noch mehr als drei Stunden laufen zu müssen, missfällt allen. Eigentlich sind wir erschöpft. Es kommen massive Zweifel an der sinnvollen Gestaltung des Trekkings auf und entsprechende „Beschwerden“ beim deutschen Veranstalter werden erwogen. Allerdings offenbart dann der Rückweg, dass Alternativen entweder nicht realisierbar oder noch unangenehmer wären. Also aufraffen, Rucksack „schultern“ und los geht’s. Mit kaum merklichem Gefälle latschen wir zunächst in Richtung des bereits wieder hinter Wolken verschwundenen Mawenzi über den Sattel. Wir nutzen die breite „Marangu-Route“ auf der uns viele Träger, Guides und Touristen entgegen kommen. Alle schätzen sich glücklich, dass der Veranstalter für unser Trekking eine andere, praktisch menschenleere Aufstiegsvariante gewählt hat. Mit dem Gipfelsieg in der Tasche lässt sich der Rummel auf der „Coca-Cola-Strecke“ leicht ertragen. Nach anderthalb Kilometern über den flachen, weithin einsehbaren Sattel kommt ein Rastplatz in Sicht. Weit und breit die einzigen größeren Felsblöcke liegen hier. Und auch zwei der üblen Toilettenhäuschen gibt es. Was werde ich wohl als Deckung für mein Geschäft gewählt haben - Felsblöcke oder Häuschen? Ein Wegweiser verheißt die „Kibo Hut“ in 1,46 km Entfernung. Und der Pfeil zu unserem Ziel, der „Horombo Hut“, ist mit 7,81 km gekennzeichnet. Noch fast 8 km! Und ich bin schon so müde …

Es hilft nichts und irgendwie geht auch das noch. Wenn nur die Strecke nicht so langweilig wäre. Erst nur Staub, Sand und Steine, dann magere Vegetation aus Grasbüscheln und Polstern. Die Sonne lässt sich kaum noch sehen. Nach einer letzten Rast nimmt das Gefälle immer mehr zu und mir wird so warm, dass ich Jacke und Regenhose, die ich als Windschutz im Aufstieg trug, ausziehe. Das geht dann als die unglücklichste Entscheidung des Tages in meine Erinnerungen ein. Minuten später verschlucken uns stark nässende Wolken, die über die Südflanke ziehen. Zum Glück ist es nicht mehr weit bis zum Lager, denn mittlerweile hat der Niederschlag die Stärke von Sprühregen erreicht. Beim „Lagersheriff“ findet wieder einmal einer der überflüssigen Verwaltungsakte statt. Ja, ja, genau: Eintrag ins „goldene Buch“ der „Horombo Hut“. Wer, was, woher, mit Passnummer, usw. Ines erledigt das und hier unterschreibe ich nicht mal mehr selbst, sie „fälscht“ auch noch meine Unterschrift … Hässlich dieses Wetter. Als wir bei den Zelten ankommen, todmüde und ausgelaugt, sind der Boden ringsum glitschig und das Zeltinnere klamm und kalt. Es dauert unverhältnismäßig lange, bis wir uns einigermaßen eingerichtet haben. Und draußen nieselt es munter weiter. Trekking zum Abgewöhnen!

 Es folgt das Übliche: Teatime, Schreiben, Lesen und dann das Abendessen. Neu ist, dass wir uns hier über die Trinkgeldfrage verständigen. Morgen wäre es zu spät. Dummerweise hat keiner die Vorgabe des Veranstalters dabei. Nur Matthias hat die vorgesehenen Summen in sein Notizbuch geschrieben und wir bestätigen sie aus der Erinnerung. Viel zu gering kommt uns allerdings der für die Träger vorgesehene Betrag in Relation zum Trinkgeld von Guides und Koch vor. So diskutieren wir die Möglichkeit, ob das Geld wohl für einen Träger gerechnet sein könnte. Das wird wieder verworfen, weil dann bei 13 Trägern eine sehr hohe Summe heraus käme … Übereinstimmung erzielen wir schließlich in der Absicht, das Trinkgeld der Träger zu verdoppeln. Das ist immer noch wenig, aber man hat ja auch ausdrücklich darauf hingewiesen nicht über das normale Maß hinaus zu belohnen. Es wird vereinbart, dass ich das Geld morgen beim Abstieg einsammele. Damit ist der Tag beendet, denn erstens sind alle hundemüde und zweitens lässt der feuchtkalte Abend jeden frösteln. Angenehmer ist es mit Sicherheit im Schlafsack …