Senezien - die "intelligente" Pflanze mit grünem "Kopf"


Am jenseitigen Ende des Sattels "wartet" Kibo auf uns ...


"Wolkensandwich"


"Tarn Hut" und Camp am Fuß des Mawenzi


Bizarre Felsformation am Mawenzi


Über den Wolken ..


Blühendes Leben in über 4000 Meter Höhe


Mawenzi zeigt sein schroffes, abweisendes Gesicht


Mawenzi wir kommen!  -

                                    Day of the "crazy watch"

Um halb Acht blinzele ich mit verschlafenem Blick noch in die Sonne. Zwar ist der Himmel nicht wolkenlos, aber ein freier Blick zum Kibo verspricht einen schönen Tag. Eine geschlossene Wolkendecke in tieferen Regionen und eine weitere, lockere oberhalb unseres Niveaus sind auszumachen. Als wir nach endloser Verzögerung (Frühstück 8:00 Uhr) um Viertel nach Neun endlich abmarschieren, hat sich die Wolkendecke aus der Tiefe bereits um mehrere Hundert Meter gehoben und schickt immer mehr Wolkenfetzen über die Hänge des Kili-Sattels. Mit dem schönen Tag wird’s also erst mal nichts. Schon kurze Zeit nach dem Aufbruch bekommt die Kamera eine Menge Arbeit. An den Hängen einer kleinen Schlucht lernen wir eine neue Pflanze kennen, die „Senezie“. Sie kommt nur in größeren Höhen vor und bildet lokal sehr begrenzte Vorkommen aus. Condrad bezeichnet sie in einem Kurzvortrag als „sehr intelligente Pflanze“. Das stützt er mit der Beobachtung, dass die teilweise bis zu drei, vier Meter hohe Staude abgestorbene Blätter nicht einfach abwirft. Sie „klappen“ vertrocknet über dem eigentlichen, dünnen Stängel herunter und schützen so vor Kälte und Austrocknung. Auf diese Weise übersteht die baumhohe Pflanze eisige Stürme und längere Trockenphasen. Nur an der Spitze treibt sie frische Blätter, weshalb sie aus der Distanz ein wenig wie ein schlecht frisierter Kopf mit grünen Haaren anmutet.

Am oberen Ende der Senezien-Schlucht steigen wir über den kleinen Bach, der sie durchfließt. Ab jetzt wird der Weg deutlich steiler und die Vegetation mit jedem Höhenmeter spärlicher. Von Zeit zu Zeit reißt der stete Nordwestwind die gigantischen Wolkenfahnen über dem Sattel auseinander und gewährt uns sehnsüchtige Blicke auf das Objekt unserer Gipfelbegierde. Als an der Basis weit ausladender Kegelstumpf drohnt der Kibo am jenseitigen Ende des Sattels. William, einer der Assitent Guides, bestätigt die von uns in der Ferne, am Fuß des Kibo gesichtete „Kibo Hut“. Noch haben wir keine Vorstellung, was hier der Begriff „Hütte“ bezeichnet. Wir werden ja auch nur in einer nächtigen - morgen, in der „School Hut“, vor dem Aufstieg zum Gipfel. William zeigt auf einen kleinen grünen Punkt am Abhang des Kibo, etwas rechts von der Kibo Hut. Das soll sie sein, unsere Unterkunft für morgen.

Die fehlende Sonne begünstigt meine merkwürdige Stimmung, die von innerer Spannung und Zweifeln beherrscht wird. Man könnte es auch als Frage formulieren, was sich da „hormonell“ in mir austobt: „Wird er uns da rauflassen, der Kilimanjaro?“ Begünstigt werden diese Gefühle von der düsteren Wolkenschichtung. Der Wolkenteppich aus tieferen Lagen hat sich soweit gehoben, dass wir nur noch in sehr flachem Winkel seine scharf abgegrenzte Oberkante sehen können. Aus diesem Wolkenmeer reißt der unablässige Wind Schwade um Schwade und treibt sie über die Flanken des Sattels zwischen Mawenzi und Kibo. Und nur wenige hundert Meter darüber erstreckt sich eine weitere, inzwischen geschlossene Wolkenschicht. Das Hindernis „Kibo“ sorgt zwar dafür, dass diese Formation über dem Sattel aufreißt. Schaue ich jedoch vom Berg weg nach Norden, blicke ich genau zwischen die Hälften eines „Wolkensandwiches“.

Noch steiler wird es, Nebel hüllt erst einmal wieder die komplette Umgebung ein und mit dem Wind fällt die gefühlte Temperatur rasch in den Keller. Die verordnete Trinkpause fällt dementsprechend kurz aus. Weit kann es nun nicht mehr sein, hat Condrad doch für heute nur eine 4-Stunden-Wanderung angekündigt. Felsiges, mit Blöcken in jeder Größe durchsetztes Terrain dominiert den Weg. Dazwischen gedeihen vereinzelte, gelb blühende, bis in Kniehöhe reichende Sträucher, die sich mit weißgrauen, etwa einen Meter im Durchmesser umfassenden Polstern abwechseln. Die Polster bilden kleine, Gänseblümchen in Form und Farbe sehr ähnliche Blüten.

Die Elemente gewähren dem verlorenen Grüppchen wieder ein wenig mehr Sicht und Sonne. Voraus erscheint der wuchtige Bergstock des Mawenzi. Noch hüllt er seine schroffen, extrem abweisend wirkenden Felswände größtenteils in Wolken. Meine Augen folgen dem längst wieder flacheren Weg ein paar hundert Meter bis auf eine Kammhöhe. In längstens 10 Minuten sollten wir dort sein und dann auch das Lager sehen können. - Wie viel Bergerfahrung braucht jemand, um nicht mehr solche zweifelhaften Prognosen zu formulieren? Natürlich sehen wir das Lager von hier nicht und natürlich kommt hinter einer Höhe, meist noch eine und dann noch eine … Noch einmal eine halbe Stunde verstreicht, bis wir von einer gerade erstiegenen Felsbarriere das Lager vor uns sehen. Zwischen den mäßig steil auslaufenden Abhängen des Mawenzi und einem kleinen See im Vordergrund, sind etwa 20 Zelte großzügig im Gelände verstreut. Zusätzlich gibt es zwei der verhassten Toilettenhäuschen und die „Hütte“. Die „Mawenzi Tarn Hut“ (4330 m) entpuppt sich als rundum mit Wellblech verkleidete, vergleichsweise winzige Schrägdachbaracke. Spätere „Inspizierungen“ von außen nähren die Überzeugung, dass wir in unserem Zelt deutlich besser aufgehoben sind. Zugleich schrumpfen meine Ansprüche an unsere morgige Herberge schlagartig gegen Null.

Ich lasse mir Zeit und verweile fotografierend und schauend. Ein aus dem See - eigentlich mehr ein „feuchtes Auge“ - Wasser schöpfender Schwarzer hat seine Kanister gefüllt und trägt sie in Richtung Lager. Nach der Menge der Zelte kalkuliert, dürften heute alles in allem etwa 60 bis 70 Menschen dieses kleine Hochplateau bevölkern. Ob die die „Riesenpfütze“ bis morgen austrinken? - Vom Berg abgewandte Blicke finden die nun wieder deutlich tiefer liegende, geschlossene Wolkenschicht. Die hohe Bewölkung hat sich fast vollständig aufgelöst. Das kräftige Blau des Himmels trüben nur noch dünne, milchige, horizontal streifige Schleier. Still ist es hier. Ab und zu ein Windstoß, von Zeit zu Zeit der Verschluss meiner Kamera - nichts sonst.

Als ich bei den Zelten ankomme ist es 13:15 Uhr. Der gestrige Abend und die Nacht waren feucht. Also schnell Matten ausrollen und die Schlafsäcke öffnen, damit sie gut durchtrocknen können. Dann ist es höchste Zeit für das Mittagessen. Der Koch hat frische Pfannkuchen zubereitet, zu denen Bohnen in Tomatensoße gereicht werden. Zwischen den mit viel Appetit verschlungenen Bissen entspinnt sich eine leicht „ethnologisch geprägte Diskussion“ über die korrekte Bezeichnung des köstlichen Fladens. Zunächst kristallisieren sich zwei Lager heraus. Der „Pfann-“ oder „Pfannekuchenfraktion“ mit Inge und Matthias sitzt die wortgewaltige „Plins“ oder „Plinse-Achse“ mit Ines und Roland gegenüber. Ich beschränke mich auf’s Zuhören und … essen. Da uns der Koch diese frische Köstlichkeit immer wieder und auch zum Frühstück servieren lässt, lebt auch das Wortgefecht immer wieder auf. Letztlich bricht die zunächst starke ostdeutsche „Plins-Plinse-Achse“ auseinander und ist sich nach mehreren „Scharmützeln“ sogar unüberbrückbar uneins: „Der Plins“ und „die Plinse“ sind eben wortgeschlechtlich zueinander inkompatibel.

An dieser Stelle soll ein Wort zur Harmonie innerhalb der Gruppe folgen. Fünf Menschen können von Herkunft, Beruf, Ausbildung und Motivation kaum unterschiedlicher sein als wir: Dennoch war von der ersten bis zur letzten Minute ein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl zu spüren. Erwähnenswert sind die dauernde gegenseitige Rücksichtnahme und viele, von großer Offenheit geprägte Gespräche. Schwächen ließen wir alle erkennen, die eine früher, der andere später. Die reizten allenfalls zu witzigen, aber nie böse gemeinten Bemerkungen. Überhaupt war herzhaftes Lachen häufiger Gast bei diesem Trekk. Uneinigkeit gab es so gut wie nie, auch nicht in der späteren Trinkgeldfrage (oft ein kritischer Moment für die Gruppe), wenngleich die letztlich zum dunklen Punkt unserer ansonsten insgesamt tollen Unternehmung wurde - doch dazu an anderer Stelle mehr.

Um 14:30 Uhr „bläst“ Condrad zum Aufbruch. Ein weiterer Akklimatisationsspaziergang steht auf dem Programm. Für mich besonders wichtig, weil ich schon wieder leichte Kopfschmerzen, verbunden mit dem mir aus Bolivien nur allzu vertrauten „Höhenbrumm“, verspüre. Eine Schmerztablette beseitigt die Unbill und klärt meine schon wieder in Kipplage befindliche Stimmungslage positiv. Auch die jetzt kräftig und mit wenigen Unterbrechungen scheinende Sonne trägt dazu bei. Ich genieße diesen Pole-pole-Spaziergang. Immer wieder ergeben sich schöne Ausblicke auf die weit unter uns liegende, blendend weiße Wolkendecke. Ziel ist ein Felsrücken, etwa 150 Höhenmeter oberhalb des Lagers, den Mawenzi hunderte Meter nach Westen in Richtung Sattel vorschickt. 45 Minuten braucht die Gruppe mit den drei Guides, um den blockigen Riegel zu ersteigen. Von hier den Anblick des Kibo zu genießen bleibt unerfüllte Hoffnung, weil der Wind unausgesetzt Wolken über den Sattel bläst. Dafür wird Mawenzi mit jeder Viertelstunde freier. Drohend und abweisend wirkt er. Gezackte, tiefeingeschnittene Grate aus dunkelbraunem bis schwarzem Gestein vereinigen sich in einem klotzigen Gipfel. Mawenzi ist ein tückischer Geselle, an dem schon viele Kletterer scheiterten und den Besteigungsversuch mit ihrem Leben bezahlten. Das Gestein sieht von hier unten ausreichend fest aus, kann dieses Versprechen wegen seiner vulkanischen Herkunft aber nicht halten. Sicherungshaken halten schlecht und Tritte im brüchigen Fels brechen leicht ab. William erzählt uns später von seinem Versuch den Gipfel zu erreichen, der aber ebenfalls scheiterte.

Nach kurzer Rast auf dem felsigen Grat geht es zurück ins Lager. Das sonnige Wetter und der nun fast vollkommen wolkenfreie Mawenzi motivieren mich zu zahlreichen Fotos. Erst gegen Viertel nach vier erreichen wir wieder das Camp. „Wohl und Wehe“ sind übrigens auch im Camp. Von „Wohl“ bekommen wir kaum etwas mit, die „Girls“ lagern 30 Meter abseits in Nähe der „Tarn Hut“. Dafür hat uns „Wehe“ mit schnarrender Stimme willkommen geheißen. Irgendwas mit „Hallo Deutschland, wie geht es ihnen?“ Zum Glück hält uns der überaus kommunikative Matthias den „Kerl“ vom Hals. Ich kann mich unheimlich schlecht verstellen, wenn ich jemanden nicht mag und hab dann auch nicht die mindeste Lust auf Small Talk. Den beiden Töchtern geht es übrigens um keinen Deut besser. Die haben sich wohl mit letzter Kraft hier herauf geschleppt. Die 4300 Höhenmeter werden ihnen heute Nacht sicher den Rest geben … Die Girls aus Nottingham wollen den morgigen Tag hier im Camp verbringen, um die Akklimatisation zu verbessern. Eine vernünftige Entscheidung finde ich.

Ja, klar, nun ist Teatime mit den üblichen Ingredienzien. Dem Popcorn-Erdnuss-Marie- Tablett wird heute allerdings nur wenig zugesprochen, weil Condrad - wie üblich - das Abendessen bereits wieder für 18:30 Uhr ankündigt. In den Zelten wollen wir dann die Zeit bis zum Abendessen mit Schreiben und Lesen überbrücken. Wir haben es uns gerade gemütlich gemacht, als ich gegen 17:45 Uhr glaube, in der dünnen Luft schon ein wenig zu halluzinieren: Nicht übermäßig laut aber klar vernehmlich, ruft Condrad zum Abendessen! Dafür schlägt ihm entsprechender Protest - vor allem von Roland und mir - entgegen. Aber es hilft nichts. Unter allfälligem Gemaule finden sich nach und nach alle Trekker im Essenzelt ein. Condrad, der wohl inzwischen den Zeitirrtum bemerkt hat, entschuldigt sich einigermaßen verlegen mit seiner „Crazy Watch“, die eine falsche Uhrzeit angezeigt haben soll. Kann man glauben oder auch nicht. Eine Beobachtung - Tage später - die Condrad und Alex in konzentriertem Gespräch und intensiver Beschäftigung mit Alex’ Armbanduhr zeigen, lässt nachträglich seine Erklärung als Wahrheit erscheinen.

Harten, gebratenen Fisch gibt’s, mit Gemüse, Kraut und einer Soße (bäähh, schon wieder mit Paprika). Die dazu gereichten Nudeln sind nicht gerade „al dente“ und schon reichlich abgekühlt. Überhaupt ist die Außentemperatur dramatisch gefallen und ich friere beim Essen. Den anderen geht es nicht anders und - mit ein bisschen Sehnsucht - kommt mir die schwüle Hitze zu Hause in den Sinn. Diverse, in diese Richtung gehende Witze kommen aus der Runde. Im übrigen löst sich die Versammlung schneller auf als sonst und alle verziehen sich in die wärmenden Schlafsäcke …