In ein paar Minuten wird die Morgensonne verschwunden sein ...


"Puderzucker" auf dem Mawenzi


"Mistwetter" on the saddle ...


Schlussanstieg vom Sattel zur "School Hut"


Die "School Hut" am Abhang des Kibo


Mawenzi in einem Meer aus Wolken

Über den Sattel zur "School Hut"    -

                                        Tag der kalten Winde

Die bisher übelste Nacht des Trekkings ist vorbei. Das „Rausmüssen“ in der Kälte schreckt längst nicht mehr, aber gegen 5 Uhr mit übelstem Kopfweh aufwachen gehört zu den hässlichsten Begleiterscheinungen dieses Abenteuers. Auch Ines hat die Nacht zugesetzt, was sie allerdings viel leichter wegsteckt als ich. Auf die Frage, wie sie denn geschlafen habe, bekomme ich eine für ihre Leidensfähigkeit typische und - dafür verbürge ich mich - ernstgemeinte Antwort: „Mund und Nase waren total trocken, vom harten, unebenen Untergrund tut mir alles weh, ich hab gefroren und bin ziemlich oft wach gewesen, aber ansonsten hab ich ganz gut geschlafen.“ - Erste Kontakte von Zelt zu Zelt und spätere Gespräche am Frühstückstisch zeigen, dass auch Inge, Roland und Matthias hier oben auf 4300 Metern nicht den süßen Schlummer in Orpheus Armen erfahren durften … Der Tag beginnt mit einer krassen Fehlentscheidung der Guides. Die wissen natürlich, dass wir närrischen Europäer gerne in der Sonne frühstücken. Und tatsächlich gleißt der Stern beim Verlassen des Zeltes warm vom Himmel. Deshalb stehen Tisch und Hocker bereits vor dem Esszelt und die Mannschaft ist gerade dabei, übliche Köstlichkeiten bereitzustellen. Schnell unternehme ich noch einen Fotorundgang, um die satten Farben des Morgens festzuhalten. Ich kehre mit der Überzeugung zurück, dass es mit der Sonne in ein paar Minuten vorbei sein wird. Wolkenfelder schieben sich von Nordwesten heran. Zum Frühstück ist die Sonne verdeckt und alle beginnen erbärmlich zu frieren. Da kann nicht mal die allseits beliebten „Plinsen“ helfen. Es ist eine ungute Erfahrung, bei wenigen Graden über Null und frischem Wind eine Mahlzeit im Freien einzunehmen …

Beim Abmarsch gegen 8:30 Uhr bin ich halb erfroren und packe mich warm ein, bin damit aber nicht alleine. Zunächst müssen wir etwa 20 Minuten des gestrigen Weges zurück marschieren, dann zweigt der Pfad in Richtung Sattel ab. - „The saddle“ nennt man die im Mittelteil sehr flache, etwa acht Kilometer lange, Hochebene zwischen den markanten Gipfeln Mawenzi und Kibo. Am Fuße des Kibo erreicht der Sattel mit ca. fünf Kilometern auch eine gewaltige Ausdehnung in der Breite.

Wie gestern kann man sich im „afrikanischen Office von Petrus“ anscheinend nicht über das Wetter einigen. Kaum los gelaufen, reißt der Himmel wieder auf und beschert uns sonnige Wegabschnitte. Mawenzi zeigt sich in klotzig, bizarrer Pracht und duldet nur um sein Haupt ein paar hartnäckige Wolken. Tendenziell geht es abwärts, wenngleich einige vom Mawenzi herabstrebende Rippen auch wieder Anstiege verlangen. Erst nach einer ganzen Weile, Ines bemerkt es als Erste, fällt uns die schwache Neuschneeauflage des Gipfels und am Westgrat des Mawenzi auf. Nicht viel, ein bisschen „Puderzucker“, aber eben auch eine Warnung. Die gemütliche Wanderung über diese Höhen kann jederzeit zum Wintererlebnis missraten …

Während eines der kurzen Anstiege haben uns die Träger schon überholt - es sind sicher nicht mehr als 60 Minuten Gehzeit verstrichen. Auf der Kuppe finden wir sie an windgeschütztem Platz rastend vor. Während uns Condrad zu ebensolcher Rast und Trinkpause animiert, schultern sie ihre Lasten und streben dem tiefsten Punkt des Sattels zu. Fast kommt es mir vor, als hätte Condrad sie mit einer kurzen Bemerkung oder einem Wink von hier verscheucht, um den Kunden Platz zu machen. Festhalten kann und mag ich den kurz in mir aufwallenden Unmut nicht, da es ja keinen konkreten Anhaltspunkt gibt. Sollte ich fragen, warum die „Porter“ mit unserem Erscheinen das Weite suchen? Bekäme ich dann eine ehrliche Antwort? Und, falls er sie tatsächlich weggeschickt haben sollte, hätte ich das Recht, meiner vielleicht dummen, unangebrachten Gefühlsduselei per Protest nachzugeben? Wahrscheinlich war gar nichts und deshalb vergesse ich die Begebenheit auch sofort wieder. Erst schreibend, am heimischen Notebook kommt mir die Situation wieder in den Sinn.

In „Petrus’ Office“ haben sich mutmaßlich wieder die düsteren Gestalten durchgesetzt. Aus tieferer Nordlage fegt der mittlerweile heftige, eiskalte Wind starke Bewölkung heran. Mawenzi hat sich hinter dichtes Dunkelgrau zurückgezogen. Es wird immer unwirtlicher, und einer nach dem anderen hüllt sich neuerlich in wärmende Schalen. Noch immer hat der Weg leichtes Gefälle und je näher wir dem tiefsten Punkt des Sattels kommen, umso geringer wird paradoxerweise auch der Abstand zur Untergrenze der Wolken! Dieses lebensfeindliche Sch…wetter erklärt, wieso wir mittlerweile eine Wüste durchqueren. Hier wächst nichts mehr, beidseits des Weges nur Steine, Sand und Staub, Staub und noch mal Staub … Oh je! Weit voraus nehme ich eine kleine Gruppe sich langsam bewegender Gestalten wahr und darin einen in kräftigstem Orange leuchtenden Punkt. Die Familie aus USA war vor uns aufgebrochen und muss wegen ihrer zwei Kranken sicher noch langsamer gehen als wir. Rasch verkürzt sich der Abstand und schon ist Matthias wieder im Gespräch gefangen. Minutenlang geht mir nun das Geschnarre und Gequarre des Südstaatlers auf den Geist. Mit beherztem Überholmanöver und zunächst stark beschleunigten Schritten verschaffen sich Ines und ich dann genügend Abstand und das lästige Geräusch verweht der Wind. Die zum Schutz gegen die Kälte über die Ohren gezogenen Kapuzen der Anoraks tun ein übriges.

12 Uhr! Bald eine Stunde kämpfen wir nun schon gegen Wind und Wetter. Ein Erlebnis ist das schon aber kein angenehmes. Und nun weicht Condrad auch noch rechts vom Weg ab, um zu „lunchen“. Aber unser erfahrener „Scout“ kennt sich gut aus. Eine vom Weg aus unauffällige Felsrippe bietet guten Schutz gegen den Wind. Sitzend und mit dem Rücken gegen den Felsen gelehnt, ist es fast windstill und wider Erwarten lässt sich so der Inhalt der Lunchbox genießen.

Ja, wir sollten aufbrechen! Nein, ich friere nicht! Nein, ich bin auch nicht ungeduldig! Aber wir lagern schon bald 30 Minuten hier, und ich sehe die Mütze im leuchtenden Orange herannahen. Mann ist der Typ ätzend! Zum Glück werden sie auch hier rasten, und Condrad gibt das Zeichen zum Aufbruch. Anscheinend hat er realisiert, dass mindestens drei von uns, möglichst viel Abstand zu dem penetranten Kerl suchen. Just zu diesem Zeitpunkt wird es rings umher heller. Innerhalb von Minuten reißt die Bewölkung auf, und erstmals am heutigen Tag sehen wir den Kibo vor uns. So unvermittelt und aus dieser Nähe mit der Masse Berg konfrontiert, scheint die morgige Aufgabe noch schwieriger und härter. Meine mit Weitwinkel aufgenommen Fotos täuschen darüber hinweg. Etwa seit der Mittagsrast hat der Weg wieder Steigung und sie nimmt ständig zu. Man kann nicht sagen, wo der Sattel aufhört und der Abhang des Kibo beginnt. Der Übergang ist fließend.

Mehrere Felsrippen, dazwischen auch einmal flachere, mit Blöcken übersäte Abschnitte, alles vegetationslos sind im Aufstieg zu überwinden. Ich halte zwar Ausschau nach dem Ziel, der „School Hut“, kann sie aber nirgendwo entdecken. Die Wanderung strengt mich kaum an, die Sonne lacht meist vom Himmel und wärmer ist es auch. Von mir aus könnte es noch ein paar Stunden so weiter gehen. Nach fast sechs Stunden Gehzeit, in einem von riesigen Felsblöcken bis Wohnhausgröße durchsetzen flacheren Bereich, taucht die „School Hut“ plötzlich vor uns auf, 4770 Meter über Meeresniveau.

Neben der grünen, mit Wellblech verkleideten Unterkunfts-Baracke, Grundfläche vielleicht 6 x 12 Meter, steht eine in derselben Farbe gestrichene runde, einem Pavillon ähnliche Rundhütte, in der gekocht wird. „Hütte“ erscheint mir als Ausdruck für diese abgehalfterten Buden als unpassender Ausdruck. Wer die zumeist gemütlichen, anheimelnden Hütten in den heimischen Alpen kennt, bekäme eine völlig falsche Vorstellung von Zustand und Standard der „School Hut“. Der Innenraum ist mit Wand und Tür zweigeteilt, kann daher zwei Gruppen aufnehmen, ohne dass sie sich gegenseitig stören. Das ist wichtig, wie sich bald zeigen wird. Nach Norden gibt es ein kleines Fenster. LEIDER gibt es da ein Fenster, denn eine von zwei Scheiben fehlt und eine provisorisch eingezogene Plastikfolie vermag den Wind nicht abzuhalten. Die grob gezimmerte Eingangstür kann, so sie verschlossen ist, Menschen den Zutritt verwehren, aber nicht dem hier oben unablässig pfeifenden Wind. Eine Seite des „Gast-“raumes wird von einer zweistöckigen Stellage ausgefüllt, auf der Weichschaummatratzen die Schlafplätze markieren, etwa acht an der Zahl. Zur Not könnten aber auch 10 bis 12 Trekker hier unterkommen. Auf der gegenüberliegenden Seite, unter dem Fensterchen, steht eine Bank. Mehr ist nicht. Tisch und Stühle haben die Porter hier herauf geschleppt. Oberhalb des Einganges haben sie ihr Zelt zum Schlafen aufgestellt.

It’s teatime. Bei heißen Getränken und den bekannten Naschereien sieht die „Hütte“ schon gar nicht mehr so abweisend aus. Immerhin müssen wir uns morgen - oder besser gesagt heute spät abends um 23 Uhr - im Dunkeln für den Aufstieg fertig machen und da ist eine geräumige, feste Unterkunft mit elektrischem Licht allemal bequemer als ein enges Zelt. - Wo der Strom für das Licht herkommt? Die kleine Leuchtstoffröhre an der Decke wird von einem Akku gespeist, der seinen Ladestrom von Sonnenzellen auf dem Hüttendach erhält. Ein kleines bisschen HighTech kurz unterhalb des oberen Ende Afrikas.

Zum Glück steht um 15:30 Uhr noch ein kurzweiliger 150-Höhenmeter- Akklimatisationsaufstieg auf dem Nachmittagsprogramm. Das verkürzt die Wartezeit und vertreibt die Nervosität. Seit wir hier sind wird mein Denken vom bevorstehenden „Gipfelsturm“ beherrscht. Immer wieder erwische ich mich bei planenden Überlegungen. Was ich anziehe und was nicht, was ich wo im Rucksack bereit halte, was in die Taschen des Anoraks gehört, unter welchen Bedingungen ich mir eine Kopfschmerztablette einwerfe oder es besser lasse, usw. Der durch Schutt und ziemliche Steigung anstrengende Akklimatisations-„spaziergang“ beendet derlei Gedanken erst einmal. In einer Dreiviertelstunde überwinden wir noch einmal 150 Höhenmeter und so fehlt an der 5000 Metermarke nicht mehr viel. Ich fühle mich immer noch relativ frisch, mein Puls war nicht übermäßig hoch im Aufstieg. Bedenkt man, dass hier fast nur noch 50% des normalen Sauerstoffgehaltes der Luft zur Verfügung stehen, dann scheint die Akklimatisation zum Glück schon weit fortgeschritten. Auch der Ausblick lohnt diesen kleinen Abstecher: Mawenzis gezacktes Profil lugt aus einem Meer von Wolken, in dem der Kili insgesamt versinkt. Den Sattel „überfluten Wolkenwellen, die beständig gegen Mawenzis Wände branden“, beinahe vollständig. Nach Fotos und Schauen geht es in 20 Minuten zurück zur Hütte - pardon - zur Schlafbaracke. Dabei ist erstmals Gelegenheit, „Abfahrtstechniken“ im schotterigen Hang zu üben. Der im Aufstieg anstrengende Schutt spart im Abstieg eine Menge Kräfte. Wie nützlich das sein wird, können wir hier noch gar nicht ahnen …

Die Zeit bis zum Abendessen vergeht schnell. Ich schreibe die Erlebnisse des Tages auf und schließe die für die Nacht nötigen Sortiervorgänge ab. Blicke nach draußen nähren Hoffnungen auf gutes Wetter. Die Wolkendecke hat sich wieder in tiefere Lagen zurück gezogen, gibt schon den größten Teil des Sattels frei. Die beim Bezug der Hütte befürchtete Nachbarschaft des „schnarrenden Amis“ ist zwar eingetreten, doch nur selten dringt ein Geräusch durch die hölzerne Wand aus dem Nachbar-„verlies“. Das lässt sich also alles ganz gut an. Nach schmackhaftem Abendessen und einem letzten kurzen Briefing von Condrad, der den Weckdienst für 23:00 Uhr ankündigt, ziehen sich alle rasch in ihre Schlafsäcke zurück. Man kann die Spannung fast greifen. Einzig störend ist der immer noch heftige, durch alle Ritzen pfeifende Wind. Aller Bergerfahrung zufolge sollte der sich eigentlich schon gelegt haben. Ist das ein schlechtes Omen?

Der Letzte macht das Licht aus. War ich das? Weiß nicht mehr, vielleicht auch Roland. Nach allfälligem „Gute Nacht“ ist jeder im Schlafsack mit seinem pochenden Herzen alleine. Ich kenne das. Unmöglich, die Gedanken von dem was kommen wird ab- und einschlaffördernden Bildern zuzuwenden. Langsam, ganz langsam beruhigt sich der Puls. Bis es plötzlich an der Tür rumpelt, gegen die wir etwas gelehnt haben, damit sie geschlossen bleibt und nicht im Wind klappert. Alex steckt aus einem völlig unerfindlichen Grund noch einmal den Kopf durch den Türspalt, schaltet das Licht ein, verzieht sich aber sofort, als er seinen Irrtum bemerkt. Dann ist endlich Ruhe und langsam, ganz laaangsam gleite ich hinüber - wird es klappen …?